Sozialdarwinistische Positionen innerhalb der Corona-Krise — Eine kurze Skizze des Sozialdarwinismus, seinem Ursprung und der Aktualität während der Pandemie

Es ist still geworden. Wir hören und lesen kaum noch etwas anderes als irgendwelche Neuigkeiten zum Verlauf der Corona-Krise, es still geworden um die anderen politischen und gesellschaftlichen Probleme. Vereinzelt wird noch über die derzeitige Geflüchteten-Katastrophe auf den griechischen Inseln berichtet. Wann wurde das letzte Mal von den verheerenden Waldbränden in Australien und Brasilien berichtet? Und auch der 9. Jahrestag der Atomkraftwerkhavarie in Fukushima am 11.03.2011 wurde kaum Beachtung geschenkt. Lediglich wird ab und an über das scheinbare Lieblingsthema – nämlich der AfD- berichtet und deren momentane Diskussion um den Umgang mit dem rechtsextremen Flügel der Partei um Höcke und co. Aber sonst? Von Halle und Hanau ist nichts mehr zu hören; auch der politische Eklat um Thomas Kemmerich in Thüringen scheint abgeebbt zu sein. Haben Rechtspopulist*innen und Rechtsextreme den Anschluss an aktuelle Debatten durch die Corona-Krise verloren? Es wäre schön, doch der Schein trügt: Sozialdarwinistische Positionen finden vermehrt Anklang und das nun auch nicht mehr nur in offensichtlich rechtsextremen Kreisen.

Die Gefahren einer wirtschaftlichen Rezession werden mit der Sterblichkeitsrate des Virus abgewogen; in den USA fordern Politiker, dass sich die Menschen einer Risikogruppe – gemeint waren vor allem ältere Menschen – sich für das Wohl der Nation opfern sollten und in anderen Kreisen wiederum wird davon gesprochen, dass die Menschheit selbst die Krankheit sei, Corona die Heilung. Auch wenn diese Beispiele zunächst nach unterschiedlichen Debatten aussehen, so liegt ihnen doch allen eine menschenunwürdige und sozialdarwinistische Perspektive zugrunde.
Sozialdarwinismus, begründet von Herbert Spencer, meint die Übertragung der Evolutionstheorie Charles Darwin auf die menschliche Gesellschaft. Das Recht des Stärkeren gilt somit in allen Bereichen der Gesellschaft, die natürliche Selektion gelte also auch bei uns Menschen. Sozialdarwinistischen Argumenten liegt folglich die Annahme zugrunde, dass gesellschaftliche Randgruppen, etwa Wohnungslose, Sozialhilfeempfänger*innen oder -im Falle der Corona-Krise- ältere Menschen, „überflüssig“ oder „minderwertig“ seien und der Gesellschaft Kosten verursachen würden, ohne selbst einen Nutzen beizutragen. Begriffe wie „Volksgemeinschaft“ oder „Sozialschmarotzer“ schließen vermeidlich Schwächere ebenso aus wie Menschen anderer Kulturen und ethnischer Gruppen. Deshalb werden sozialdarwinistische Positionen auch als wesentliches ideologisches Element der Neonazi-Szene klassifiziert.
Dass allein der wirtschaftliche Schaden dieser Pandemie mit Menschenleben aufgewogen wird, veranschaulicht also ein grundlegendes Problem unserer Gesellschaft:
Humanistische, zivile und demokratische Werte und Normen weichen immer stärker den Wert¬maßstäben der Wirtschaftlichkeit.

Und was sagte Darwin dazu?
Spencer und Darwin standen in regem Austausch. Ergebnis war, dass Darwin sogar Argumentationsweisen von Spencer übernahm. Das bekannte „survival of the fittest“ stammt daher nicht- wie oft angenommen- von Darwin, sondern von Spencer. Darwin relativierte zwar die Gedanken Spencers, indem er versuchte die Besonderheit der Menschen (z.B. Empathie) betonte. Nichtsdestotrotz erfolgte erst spät eine persönliche Distanzierung Darwins von den rassistischen Passagen. Kritische Stimmen sind daher der Ansicht, dass die destruktive Anwendung von Darwins Theorie auf die menschliche Gesellschaft durch sein Schweigen und seine persönliche Zurückhaltung beschleunigt wurde. Durch keine klare Positionierung Darwins fand die sozialdarwinistische Theorie schnell Anklang in einer vom Liberalismus geprägten Zeit. Dabei entpuppte sich der Sozialdarwinismus als wirksames Instrument, um den rücksichtslosen wirtschaftlichen Kampf, den Vorrang der Einzelnen und die Auswahl der Fähigsten im sich entwickelnden Liberalismus Ende des 19. Jahrhunderts zu propagieren.

Und nun?
Sozialdarwinistische Argumentationen sprechen den Menschen ihre Gleichwertigkeit und den Anspruch auf einen gleichen Umgang ab. Sie bilden den Nährboden für das Entwickeln und die Verankerung von Stereotypen, Vorurteilen und politischen Ideologien der Minderwertigkeit von spezifischen Menschengruppen. Eine solche Sichtweise gefährdet ebenfalls die erfolgreiche Umsetzung der 2030 Agenda. Klimagerechtigkeit, die ausnahmslose Gleichstellung der Geschlechter oder die Reduktion von Armut und Hunger können nur dann erreicht werden, wenn sowohl auf nationaler Ebene, also auch auf internationaler Ebene, jedem Menschen die gleichen Rechte und Ansprüche zugesprochen werden. Maßgeblich hierfür ist die Akzeptanz der Gleichwertigkeit aller Menschen. Besonders in Krisenzeiten müssen wir daher als Gesellschaft näher zusammenrücken und sich mit Solidarität gegen jedwede Aufwägung von Menschenleben wehren.